Kulturgeschichte Österreichs
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Helmut Seethaler – Der Wiener Gedichtbandkleber

Keine Anthologie wird seinen Namen vermerken. Doch wer das literarische Wien erkundet, der stößt zwangsläufig auf ihn. Seit bald 40 Jahren verwandelt Helmut Seethaler (1953) die Stadt in einen Tatort seiner eigenen Form von Literatur: Um Bäume, Litfaßsäulen, Bauzäune und Geländer schlingt er Klebeband. Daran heftet er in dichten Zettelbüscheln seine „Pflücktexte“ – Gedankensplitter, Aphorismen und Sentenzen zum Mitnehmen. Freie Kunst und Kulturkritik für Jedermann. Die Frucht seiner Mühe ist sicherlich kein Dichterlorbeer, doch mit der Beharrlichkeit und Eigenwilligkeit seiner Einwürfe gegen die Gesellschaft kämpft Seethaler um einen Platz im weiten Kunstbegriff der Moderne – und um einen Platz im Stadtbild. Zur Fama des Zettelpoeten zählen auch seine anhaltenden Gefechte mit den Wiener Behörden. Die Strafanzeigen, mit denen Stadtbahn und Ordnungsamt Seethalers Pflücktextkolonien begegnen, zeugen mitunter von nicht minder literaturverdächtigem Einfallsreichtum – und erreichen ähnlich schwindelerregende Auflagen: An die 3000 Mal wurde er angezeigt, die Stadt zu verunreinigen. Fast ebenso oft sprachen in die Richter von den Vorwürfen frei. Es steht jedem offen, das Kammerspiel um Seethaler zu bewerten. In jedem Falle jedoch sorgt der unangepasste Zetteldichter dafür, dass Literatur auch heute noch sichtbar in Wien lebt – und klebt.

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