Severins Gang in die Finsternis
- 13 x 21 cm, 200 Seiten
- Deckenband, Fadenheftung, Schutzumschlag, Lesebändchen
- ISBN 978-3-89919-459-3
- Auf Lager
„Ihre Straßen führten in die Irre, und das Unheil lauerte auf den Schwellen.“ So zeichnete der Prager deutsche Dichter Paul Leppin (1878–1945) einmal seine Heimatstadt, und genau so stellt er sie uns in seinem meisterhaften, erstmals 1914 aufgelegten Prager Gespensterroman Severins Gang in die Finsternis vor. Leppins Titelheld irrt durch ein dunkles Labyrinth der Laszivität, droht unrettbar zu versinken in eine Welt der Leidenschaften und Exzesse. Gibt es Rettung aus dem Morast?
Pressestimmen PressestimmenBuchrezension im e*forum am 17.3.2021
Der "hässliche Freund" von Prag
Die Frage, was nach dem Ende des letzten Kapitels aus den Protagonisten geworden ist, hat mich bisher bei zwei Büchern beschäftigt: einmal bei "Bel Ami" und dann bei diesem schmalen Band. Beide Hauptfiguren sind junge Männer die zu Beginn in einer Art Tretmühle feststecken. In langweiligen Brotberufen gefangen, in einfachsten Wohnverhältnissen lebend, aber hübsch genug, um Anklang beim anderen Geschlecht zu finden. Doch während dem Bel Ami , dem "schönen Freund" im beschwingt-koketten Paris mit Hilfe einiger ihm wohlgesonnener Damen der Gesellschaft der Aufstieg gelingt, lässt sich Severin im düsteren, verträumten Prag treiben.
Severin ist wie seine Stadt, er fühlt sich mit ihr verbunden wie mit keinem Menschen in seiner Umwelt. So verwundert es nicht, wieviel Raum die Schilderungen des Stadtbildes und seiner Stimmungen einnimmt, während das Zwischenmenschliche zu kurz kommt. Zdenka, Susanna, Klara sind nur Namen und willfährige Leiber, die im Bild der großen Stadt aufgehen; Severin beansprucht das Besondere für sich, in dem Glauben besonders zu sein und tritt lange doch nur auf der Stelle.
Erst im letzten Drittel des Buches kommt Bewegung in die quälend langsame Sache und, der Titel mag es verraten, Severins Weg führt in die Dunkelheit. Zu Füßen des billigen Animiermädchens Mylada liegend, wird ihm der quälende Wunsch nach der Einzigartigkeit des Erlebens zum Fluch. Am Ende des Buches ist er zwar schon auf dem besten Weg zu Wahnsinn, Tod und Irrenhaus, aber die beklemmende Stimmung der letzten Seiten entlässt uns schließlich in die Ungewissheit über Severins Schicksal.
Insgesamt war es nicht einfach zu lesen, stellenweise verliert man sich in den detaillierten, ja überladenen Schilderungen der Spaziergänge Severins durch sein Prag, so dass man geneigt ist einige Passagen zu überspringen. Im Gegensatz zum Bel Ami, dem man trotz seiner Eskapaden insgeheim doch die Daumen drückt, ist Severin auch einfach nur unsympathisch, nicht mal ein Antiheld, denn es ist nichts, absolut nichts Heldenhaftes an ihm. Man könnte fast von einem "Vilain Ami", dem hässlichen, bösen Freund sprechen.
Zweitens setzt das Buch zum tieferen Verständnis fast voraus, dass man mit der Vergangenheit der Stadt rudimentär vertraut, im Idealfall aber dort gewesen ist. Das tragische Geschick der Jüdin Susanna beispielsweise, die von Severin ein Kind bekommt und für eine Zeitlang im Findelhaus landet, erschließt sich auch erst wenn man weiß was ein Aufenthalt im Findelhaus für Mutter und Kind in der damaligen Zeit - das Buch erschien 1914 - bedeutete.
Wer mit Meyrink ohne Golem, dafür mit umso mehr Prag etwas anfangen kann, möge hier zugreifen.
L.S.D., Kundenrezension auf Amazon
6. August 2020
Stimmungen und Atmosphären des alten Prag
Der Jüngling Severin ist 23, hat das Studium nach drei Semestern abgebrochen und versieht nun einen verhassten Schreibdienst. „Nun saß er während der Vormittage in dem hässlichen Bureau und hielt sein kränkliches und bartloses Bubengesicht über die Zahlenreihen gebeugt. […] Eine lästige Müdigkeit bohrte in seinen Schläfen, und er drückte mit den Fingern die Augäpfel in den Kopf, bis sie schmerzten.“ Sein eigentliches Leben beginnt, „wenn er am Abend, vom Schlaf betäubt, auf die Straße trat“. Anhand der Stadtwanderungen Severins ließe sich vermutlich eine Topografie des alten Prag entwerfen. Hier schreibt jemand, der sich auskennt, der zu allen Jahreszeiten unterwegs war, bei jedem Wetter, tagsüber ebenso wie nachts. Es ist eine unheimliche Stadt: „Die Stadt, die er kannte, war anders. – Ihre Straßen führten in die Irre, und das Unheil lauerte auf den Schwellen. Da klopfte das Herz zwischen feuchten, verräterischen Mauern, da schlich sich die Nacht an erblindeten Fenstern vorbei und erwürgte die Seele im Schlaf. Überall hatte der Satan seine Fallen aufgestellt.“
Severins Schicksal sind die Frauen, er taumelt von einer zur anderen, kann sich nicht entscheiden, kann nicht lieben, kann nicht bleiben. Die jüdische Susanna bekommt ein Kind von ihm, ohne dass es ihn weiter kümmert. Die tschechische Zdenka wartet immerfort auf ihn, doch er verlässt sie immer wieder. In einer kurzen Phase der gemeinsamen Liebe bringt er ihr „die stille Sprache der Stadt“ bei. Die Begegnung mit der Schauspielerin Karla bleibt ein Intermezzo. Dann sein Verhängnis: das Animiermädchen Mylada. „Ihr Körper war klein wie der eines Kindes, und hinter dem dünnen Kleid reckten sich ihre Brüste.“ Sie bezaubert und beherrscht alle Männer in der Kneipe, sehr ähnlich der Rosa Fröhlich aus Heinrich Manns Professor Unrat (1905). Severin verfällt ihr.
Paul Leppins Herkunft und Heimat ist die Lyrik, er ist kein Erzähler. Ihn interessieren Stimmungen und Atmosphären, seelische Schwingungen, Launen und Träume. Die kurzen Kapitel seines schmalen Romans kennen kaum Dialoge. Oft ist es nur ein einziger Satz der wörtlichen Rede, der am Ende einer Erörterung der Seelenlandschaft steht: „Geh nach Hause, Karla – Ich liebe dich nicht mehr.“ In einer anderen Szene: „Was tust du hier? – fragte sie, und ihre erloschenen Augen drohten. Ihre Gestalt wuchs groß und gebieterisch in der Dämmerung, und Severin sah voll Grauen, daß sie ein Kind erwartete. Susanne! – flüsterte er.“ Diese überaus geladenen Zweizeilendialoge erinnern an den Stummfilm mit seinen eingeschobenen Dialogtafeln.
Dazwischen sind es die endlosen Gänge durch die geheimnisvolle Stadt, die das Seelenleben des Antihelden Severin offenbaren: „Am liebsten waren ihm die Straßen, die abseits von dem großen Getriebe lagen. Wenn er die Augen zusammenkniff und durch die halbgeschlossenen Lider schaute, bekamen die Häuser ein phantastisches Aussehn.“ In seinen örtlichen Beschreibungen ist Leppin sehr präzise, sein Stil impressionistisch, mit Attributen gesättigt. „Nur ein paar tschechische Jünglinge schoben in dem verwahrlosten Garten Kegel und eine mürrische Kellnerin brachte das trübe Bier in zersprungenen Gläsern.“
So fern diese Stadtbilder, so ungewohnt ist auch der oft überladene Ton des Romans, jedenfalls für unsere Ohren: „[…] in derselben Sekunde sah er sich selbst in einem unsichtbaren Spiegel, von Lastern entstellt, die ihn ersticken, mit Geschwüren besät, in denen die Verhängnisse wucherten.“ Etwas too much, und das ging schon den Zeitgenossen so; Leppin wurde wenig gelesen. Dennoch ist dieser Roman ein besonderes Beispiel deutschsprachiger Stadt-Literatur.
Johannes Groschupf, Kundenrezension auf Amazon
6. März 2016
Five Stars
Empfehlenswert!
Robert W., Kundenrezension auf Amazon
17. Oktober 2015